Mobilfunk-Horror verwandelt die Welt

In "Puls" gibt sich Stephen King sozialkritisch

Vom 15.03.2006

Von Roland Mischke

FRANKFURT Der Geschäftsmann Clay hatte in Boston einiges durchzupauken. Seine Abschlüsse sind gut, er ist zufrieden. Am Tag vor der Heimreise ist er deshalb großzügig beim Kauf von Geschenken für die Familie. Sich selbst belohnt er mit einem Eis, das er bei einem Straßenhändler abkauft. In diesem Augenblick geschieht Ungeheuerliches.

Die Stadt dreht von einer Minute auf die andere durch. Seriöse Krawattenträger, leger gekleidetes Jungvolk mit iPod-Kopfhörern, höfliche Busfahrer, nette Hausfrauen, Kinder und Alte fallen plötzlich übereinander her. Täter sind die, die gerade noch ein Mobiltelefon am Ohr hatten, Opfer jene ohne Handy. Sie werden regelrecht abgemetzelt. Eine "Power Suit Woman" auf hohen Absätzen gerät ins Taumeln, ihr schöner Mund verzieht sich zu einem "krampfartigen Zähnefletschen." Dann springt sie einen Eismann an. Das Mädchen Pixie Light wird vom mörderischen Furor erfasst. Sie fletscht ihre "kräftigen jungen Zähne" und rammt sie "Power Suit Woman" in den Hals. Dann schaut die Kleine Clay an. "Wer bist du?" fragt sie. Und dann, fassungslos: "Wer bin ich?"

Gemeinsam mit dem verwirrten Mädchen schafft er es in ein Hotel, während das Morden auf der Straße weitergeht. Wer in einem bestimmten Moment telefonierte, den erwischte ein Virus, das wie ein geschmeidiger Wurm aus dem Gerät in den Menschen schlüpft und dessen biologische Festplatte löscht. Jeder Handy-Benutzer wird zum Zombie. Die Welt teilt sich auf einmal in metzelnde, marodierende "Phoner" und solche, die ihre Vernunft behielten. Eiskalt läuft es Clay über den Rücken: Erst vor kurzem hat er seinem Sohn Johnny ein Handy geschenkt. Der muss gerade in der Schule sein. Clay will ihn davor zu bewahren, dass er in der nächsten Pause an sein Handy geht, wenn es orgelt. Der Wettlauf mit der Zeit beginnt. Stephen King kennt unsere Ängste. Viel besser als andere Autoren, weshalb er weltweit mehr als 300 Millionen Bücher in 33 Sprachen verkauft hat. In früheren Büchern ließ er den Bernhardiner "Cujo", der eigentlich Menschen aus schwieriger Lage rettet, ebenso zum Monster werden wie das Auto "Christine", den Clown oder die Krankenschwester. Auch in "Puls" verändert sich alles von einem Tag auf den anderen. Das Mobiltelefon, das viele als Fortschritt empfinden, erweist sich als Killerfalle. Irgendein Verrückter irgendwo auf der Welt hat ein tödliches Virus auf die Reise gesandt - es kann nicht mehr gestoppt werden. Das Handy kippt die soziale Ordnung um, führt zum Weltuntergang.

King ächtet das Mobiltelefon. Seine Beschreibung geht weit über den Horror hinaus, sie ist äußerst sozialkritisch. Mobiltelefone seien die "Sklavenketten des 21. Jahrhunderts", heißt es. Sie bewirken einen Rückgang zu primitiven, "vormodernen" Mustern sozialen Lebens. Das mobilfunkgesteuerte Leben verhindert wahre menschliche Begegnungen und zwangsprivatisiert dafür jeden Durchgangsraum, ob Wartehalle, Laden oder öffentlichen Platz. Aber wer will schon alles wissen von seinem Nachbarn im Zugabteil? Seine Fiktion einer Mobilfunkkatastrophe ist spannend und macht nachdenklich. Solche Wirkung hatte ein Horrorroman noch nie. Stephen King, übrigens, der sich als Multimillionär nahezu alles leisten könnte, besitzt kein Handy.

Stephen King: "Puls." Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Heyne. München. 528 Seiten. 19.95 Euro

Copyright: Wiesbadener Kurier, Verlagsgruppe Rhein Main

http://www.wiesbadener-kurier.de/feuilleton/objekt.php3?artikel_id=2305159

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Das Grauen kommt aus dem Handy
http://www.inside-handy.de/news/5556.html

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