DasErste.de | 06. März 2006 | 22:04
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FAKT vom 06.03.2006
FAKT Reportage: Working Poor
Manuskript des Beitrages
Während bei uns über Kombi- bzw. Mindestlöhne diskutiert wird, gibt es bereits viele, die zwar voll arbeiten aber trotzdem so wenig verdienen, dass sie vom Staat alimentiert werden müssen.
Dagmar Kellner ist ausgebildete Friseurin in Erfurt. Nach dreijähriger Lehre arbeitet die 22-jährige heute Vollzeit. 4,15 Euro brutto die Stunde plus Umsatzbeteiligung - macht netto nicht einmal 600 Euro im Monat. Unter Hartz-IV-Niveau.
Gerade in der Dienstleistungbranche müssen Niedriglöhne alimentiert werden; Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK Bildansicht Gerade in der Dienstleistungbranche müssen Niedriglöhne alimentiert werden O-Töne: Dagmar Kellner, Friseurin "Wir hatten ja vorher vom Arbeitsamt so Berufsberatung und da haben die das schon gesagt, also, dass es wirklich Geringverdiener ist."
Sie gehört zu den so genannten "Working Poor" - Menschen, die Vollzeit arbeiten und dabei so wenig verdienen, dass sie Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen haben - auch wenn sie sie wie Dagmar Kellner nicht in Anspruch nehmen. Über zwei Millionen Erwerbstätige bundesweit sind das nach einer Studie der Uni Frankfurt - Tendenz steigend.
"So nach dem ersten Gehalt, wo es dann hieß, schaffe ich das mit der Miete, die ganzen Unterhaltskosten. Kann ich das alles bezahlen. Da kamen dann schon Zweifel auf, ob ich das schaffe."
Einschränken aufs Notwendigste heißt die Devise: Urlaub bei den Eltern in Eisenach, kein Führerschein, kein Auto, sparen wo es nur geht. Dabei sind die 4,15 Euro brutto pro Stunde ein branchenüblicher Lohn. 15 Euro kostet der Haarschnitt. Bei diesen Preisen sei mehr Gehalt eben nicht drin, glaubt die junge Frau.
"Noch teurer verkaufen wäre schlecht, weil dann noch weniger kommen würden. Man merkt es jetzt schon so, die ganzen Jahre haben wir die Preise eigentlich ziemlich stabil gehalten und mussten jetzt ein bisschen erhöhen, nur so ein paar Cent, mal 50 Cent oder so, aber das merken die Leute dann eben gleich. Also, noch mehr dann geht es noch mehr zurück mit der Kundschaft."
Ein Teufelskreis aus Schnäppchenmentalität, wachsendem Preisdruck und hoher Arbeitslosigkeit führt so im Ergebnis in immer mehr Branchen zu Löhnen auf oder unter Hartz-IV-Niveau.
Wie auch bei Reinhard Zetschze aus Leipzig, der als Wachmann arbeitet. Von 18 bis 6 Uhr, im Schnitt 50 Stunden die Woche. Der Brutto-Lohn hier: Inklusive Nachtzuschlag fünf Euro pro Stunde.
O-Töne: Reinhard Zetschze, Wachmann "Das ist ein gängiger Durchschnittslohn. Es gibt Firmen, die zahlen etwas mehr. Aber das sind Ausnahmen. Es gibt aber auch - und das sind eigentlich keine Ausnahmen - Firmen, die zahlen noch weniger. Mir ist bekannt, der niedrigste Brutto-Stundenlohn, 3,50 Euro."
Trotz der überlangen Arbeitszeit hinterm Steuer seines Dienstwagens kommt 58-jährige netto auf gerade mal rund 800 Euro - und das auch nur weil einige Zuschläge noch steuerfrei sind. Mit Hartz-IV würden er und seine Frau sich besser stellen.
Reporterin: "Wurde Ihr Lohn jetzt mal erhöht, in den letzten Jahren?"
"Nein. Das kann ich definitiv und ohne zu schwindeln sagen, seit acht Jahren nicht ein Stück."
Und Lohnerhöhungen sind nicht in Sicht. Erst in vier Jahren wird sich die Einkommenssituation für den ehemaligen Bergmann verbessern. Absurd aber wahr: Wenn er 2010 vorzeitig in Rente geht, bekommt er mehr als mit 50 Stunden Nachtarbeit die Woche.
O-Töne: Reinhard Zetschze, Wachmann "Da kriege ich etwas mehr. Weil ich aus dem Bergbau komme. Meine Bergbaurente liegt spürbar höher, als das was ich jetzt verdiene."
Inzwischen ist es Morgen geworden. Schichtende. Frühstück in einer Bäckerei. Hier arbeitet seine Frau Hannelore - auch Vollzeit, auch im Schichtdienst. Offiziell 37,50 Stunden die Woche als gelernte Bäckerei-Fachverkäuferin - für rund fünf Euro brutto die Stunde.
"Wenn sie Frühschicht hat, und ich komme aus der Nachtschicht, dann sehen wir uns ja früh überhaupt nicht. Dann kommt sie halb drei Uhr nach Hause. Halb fünfe bzw. fünfe mache ich mich dann wieder fertig. Da bleibt nicht viel."
600 Euro netto verdient Hannelore Zetschze. Auch hier sind inzwischen Löhne üblich, die sich auf oder unter Hartz-IV-Niveau bewegen. Trotzdem will sie sich nicht vom Staat finanzieren zu lassen. Motto: Lieber weniger Geld im Portemonnaie - aber dafür mit den eigenen Händen verdient.
Auch im Einzelhandel werden geringe Löhne gezahlt; Rechte: ddp
Auch im Einzelhandel werden geringe Löhne gezahlt O-Ton: Hannelore Zetschze, Bäckereifachverkäuferin "Auf jeden Fall sind wir erst mal froh, dass wir überhaupt Arbeit haben. Das muss ich dazu sagen. Und in unserem Alter dann sowieso. Wenn Sie jetzt arbeitslos werden, mit 55, 58 - wo wollen sie da noch hin."
Kollegin: "Darf ich mal ganz kurz stören? Meinen herzlichsten Glückwunsch, meine Liebe, zum Geburtstag. Alles Gute."
Hannelore Zetschze hat heute Geburtstag. Gefeiert wird zuhause in einer unsanierten Plattenbau-Wohnung, die warm knapp 450 Euro kostet. Von ihren zusammen 1.400 Euro Netto zahlen die beiden noch einen Gebrauchtwagen ab. Da ist Essen gehen nicht drin - nicht mal zur Feier des Tages.
"Das haben wir vor 5 Jahren gemacht, zu meinem 50. Geburtstag. Das haben wir in der Gaststätte gemacht, hier hinten. Da hat der uns die Rechnung präsentiert. Ich sage, Reinhard, wir haben uns jetzt bestimmt verhört. Ich sage, das kann doch nicht sein, 600 Mark? Das war gerade noch DM."
O-Ton: Reinhard Zetschze, Wachmann "Ihr fiel alles aus dem Gesicht, Geburtstag war versaut."
Seit dem ist Essen gehen gestrichen - ebenso wie die Urlaubsreise. Doch auf staatliche Sozialleistungen zurückgreifen, auch wenn sie ihnen zustehen, wollen die beiden nicht. Auch das typisch für Niedriglohn-Arbeiter: Beinahe jeder zweite Hilfeberechtigte - so das Ergebnis der Frankfurter Studie - verzichtet auf Unterstützung. Aus Unwissenheit - oder schlicht aus Stolz.
Wieder bei der Erfurter Friseurin Dagmar Kellner. An diesem Arbeitstag hat sie netto etwa soviel verdient, wie ein Haarschnitt im Laden kostet. Der anschließende Einkaufsbummel erfolgt nach dem Motto: Gucken statt Kaufen. Trotzdem will auch sie nicht auf ergänzendes Arbeitslosengeld II zurückgreifen.
O-Töne: Dagmar Kellner, Friseurin "Man muss ja dann wirklich Rechenschaft über alles ablegen, was du für ne Wohnung hast, wie viel Miete, was willst du denn mit dem Geld. Deswegen möchte ich das eigentlich nicht, dieses beantragen und dem Staat dann noch mehr auf der Tasche liegen."
Und so heißt es auch bei ihr: Einschränken auf das absolute Minimum. Die Wohnungseinrichtung haben die Eltern zu großen Teilen bezahlt. Käme der in der Regierung diskutierte Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde sähe das anders aus. Ihr Gehalt würde sich um runde 50 Prozent erhöhen. Skeptisch ist sie trotzdem.
"Der Mindestlohn an sich ist schon eine schöne Sache, aber so Friseurbranche, kann ich es mir eigentlich nicht vorstellen. Also, für uns im Laden, wäre es schon ungünstig, weil bei uns hieß es dann, dass du einen Mindestlohn zahlst, dass dann dafür ein anderer geht."
Anders ausgedrückt: Dagmar Kellner glaubt, die Einführung des Mindestlohns könnte sie am Ende ihren Job kosten. Stattdessen setzt sie lieber auf eine klassische Lebensplanung.
O-Töne: Dagmar Kellner, Friseurin "Mit vierzig gehe ich davon aus, dass ich verheiratet bin und dann einen Mann habe, der ein bisschen mehr verdient, wie ich, aber ich will auf jeden Fall, ich möchte schon noch in dem Beruf bleiben, also, ich sehe da schon meine Zukunft noch drin, als Friseur bis 60 oder 67 je nachdem zu arbeiten."
Reporterin: "Aber ohne Mann wäre es schwierig?"
"Ohne Mann, da wär’s schon schwierig. Also, da würde ich denke ich mal dann doch jeden Tag um meine Existenz bibbern."
So wie immerhin rund jeder 18. Erwerbstätige in Deutschland.
zuletzt aktualisiert: 06. März 2006 | 18:54 Quelle: FAKT
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"Vorschläge" im Herbst: Hunderttausende Vollzeitarbeiter verdienen laut Müntefering unter ALG-II-Niveau (03.04.06)
In Deutschland arbeiten offenbar rund 300 000 Vollzeit-Beschäftigte unter dem Niveau des Arbeitslosengeldes II (ALG II). Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) sagte der Online-Ausgabe der "Financial Times Deutschland": "Es gibt schätzungsweise 300.000 Vollzeitjobber, die so wenig Geld bekommen, dass sie es mit ALG II aufstocken." Hinzu kämen mehrere hunderttausend Menschen, die neben einem Teilzeit- oder Minijob Arbeitslosengeld II bekommen.
Die ganze Nachricht im Internet:
http://www.ngo-online.de/ganze_nachricht.php?Nr=13309